Ostern 2010 begann ich, ein paar religiöse und philosophische Gedanken ins Notebook zu tippen. Ich habe ein unsicheres Gefühl, diese Gedanken auszubreiten. Esoterische Ansätze lassen mich erschaudern. Etwas Internetrecherche zeigte mir aber, dass zumindest die philosophischen Ideen über Determinismus gar nicht weit weg vom aktuellen Diskurs stehen. Doch es fehlt mir die Gesamtsicht, die die Ideen vereint. Grund genug für diese paar Zeilen.
Ich selbst spüre in mir eine große innere Zuversicht, den mir der Gottesglaube geben kann. Da ist das Gefühl, verstanden, wahrgenommen und angenommen zu werden, auch wenn ich alleine bin - bedingungslos geliebt. Die Idee einer strafenden Kontrollinstanz ist mir fremd. Das Beten, völlig unstrukturiert und unregelmäßig, hilft mir, weil mir bei diesem inneren Monolog neue, bereichernde Gedanken kommen. All das mag durch das Elternhaus begründet sein, das aber weit davon entfernt war, streng religiös zu sein.
Dieser Glauben ist fest verwurzelt. Eine Art Urvertrauen. Diesen Glauben kann man nicht begründen. Sonst wäre es ja kein "Glauben" mehr.
Das ist das eine. Das andere sind philosophische Gedanken, die damit nicht durchweg kompatibel sind, aber aus meiner Sicht trotzdem in der Konsequenz einen Glauben nahelegen. Üblicherweise wird gesagt, Religionen seien entstanden, um Irrationales zu erklären, nämlich das, was die Menschen zu ihrer Zeit nicht verstanden haben. Inzwischen leben wir in einer Zeit, in denen Naturwissenschaften sehr viel erklären, was hier im materiellen Sinne passiert. Ich habe keine Zweifel daran. Können wir uns also leisten, den Glauben deshalb über Bord zu werfen? Die folgenden Kernfragen sollten nachdenklich stimmen.
Was wir als selbstverständlich hinnehmen, ist ein Rätsel. Wir können jeden Körper von außen gesehen erklären und sogar manipulieren: Schmerz, Glücksgefühle, Stimmungen gehen auf chemische und neurale Prozesse zurück. Körper würden nach rein naturwissenschaftlichen Prinzipien auch unbeseelt in ihrer vollen Komplexität funktionieren. Doch in meinem eigenen Körper lebe ich. Und in keinem anderen. Dafür gibt es keine Erklärung. Für mich das stärkste Argument, dass die unsere Wahrnehmung nur einen sehr kleinen Teil einer allumfassenden Realität beleuchtet, die wir nicht im geringsten erfassen können. Damit meine ich keine Standard-Esoterik, sondern etwas, für das die Worte fehlen.
Daraus folgen einige Fragen:
Besitzt sie Erinnerung oder Charaktereigenschaften? Würde mein Gehirn durch einen Unfall oder durch Drogen manipuliert, dann wäre ich ein anderer Mensch. Trotzdem wäre ich weiterhin ich, also mit diesem Körper verbunden.
Aber selbstverständlich - würden die meisten wohl reflexartig antworten. Ich will auch nichts anderes glauben. Wer seinem Gesprächspartner ins Gesicht sagt, dass dieser vielleicht gar nicht existiert, riskiert einiges. Jeder möchte ja gesehen und bestätigt werden. Mit dieser Frage kann man das genaue Gegenteil erreichen.
Ich weiß aber nur von mir. Andere könnten auch seelenlose Materie sein, die nach den Gesetzen der Naturwissenschaften funktioniert. Ich sehe, wie andere reagieren: sie empfinden Schmerz oder Freude ähnlich wie ich. Das ist aber nur der Fall, weil die Körper ähnlich aufgebaut sind.
Theoretisch ist es also möglich, dass man selbst das einzige beseelte Wesen im Universum ist. Eine Beweisführung ist unmöglich. Natürlich sollte man sein Leben trotzdem rücksichtsvoll und mit Respekt vor anderen Menschen, Tieren und sogar Pflanzen führen. Gefährlich ist die Idee, weil Menschen im Extremfall weniger Hämmungen hätten, Anderen Schaden zuzufügen. Problematisch auch, weil dieser Gedanke helfen könnte, Qualen und Leid Anderer zu ignoreren anstatt zu helfen.
... bedeutet: Alles ist vorherbestimmt. Wie haben keinen eigenen Willen, es erscheint uns nur so. Das Leben liefe ab wie ein Film.
Nimmt man die Naturwissenschaft ernst, liegt dieser Schluss näher, als viele denken. Jedes Atom in diesem Universum hat seine Eigenschaften: Aus Ort und Geschwindigkeit im jetzt lässt sich ansatzweise der nächste Moment berechnen, theoretisch bis in die Unendlichkeit. Nun gilt das nicht ganz: die Quantenphysik sieht die Welt als Abfolge von Wahrscheinlichkeiten, die in der Gesamtheit bestimmten Gesetzmäßigkeiten folgen. Beim radioaktiven Zerfall ist klar, dass nach einer bestimmten einer Halbwertszeit z.B. zuerst 100 Atome, dann 50, dann 25 zerfallen. Wann genau die Zerfallsereignisse eintreten, ist dagegen nicht vorhersagbar. Auf welche Weise fügt sich nun das, was wir für einen freien Willen halten, in die materielle Welt ein? Werden atomare Wahrscheinlichkeiten so beeinflusst, dass in irgendeinem Moment etwas passiert, was sonst anders passiert wäre? Das kommt mir reichlich spekulativ vor.
Die Gedankengänge vor allem über Determinismus aber auch die Möglichkeit des Alleinseins besitzen das Potential, einen denkenden Menschen in eine Sinnkrise zu versetzen. Hier setzt der Glaube an. Es ist zunächst der Glaube an Gott. Er gibt mir einen Halt, eine Art Urvertrauen, dass ich gut aufgehoben bin. Kognitiv betrachte ich die Lebenswelt, die mich umgibt, zunächst mit einer Distanz. Sie bildet ein abgeschlossenes System, in dem bestimmte Naturgesetze gelten. Diese gelten konsequent. Dennoch erklärt diese Lebenswirklichkeit nicht meine Existenz. Das bringt mich zu der Überzeugung, dass es eine umfassendere Realität gibt, die ich nicht begreifen kann. Genauso unbegreiflich muss der Begriff Gottes bleiben. Gott als “höheres Wesen” zu beschreiben, führt am Ziel vorbei. Auch das müsste sich nach der Ursache der Existenz seiner Seele fragen. Jegliche esoterischen Ansätze bleiben zu sehr im weltlichen Phantasiekorsett verhaftet. Die Antwort nach dieser allumfassenden Realität muss schlichtweg abstrakt bleiben, genauso wie die Frage nach der Beschaffenheit Gottes.
Und diese Zuversicht ist es vielleicht, die mich mit der Realität wieder versöhnt. Ich kann mein Leben annehmen, liebe meine Angehörigen, begegne Anderen mit vollem Respekt.
1. Es gibt Menschen, die erstaunlich gut mit der Determinismus-Idee klarkommen. Es ist tatsächlich kein Problem, die Entscheidung nach Tee oder Kaffee als vorherbestimmt zu sehen. Aber die Konsequenz ist doch, dass das ganze Leben, die Geschehnisse des Universums bis in alle Ewigkeit festgelegt sind – mit einer gewissen Varianz durch besagte quantenmechanische Zufälle. Wo bleibt dann die Motivation, wenn eh schon alles fest steht? Wir können uns innerlich zurück lehnen, unseren Lebensfilm laufen lassen. Aber reicht es dann noch dazu, Strukturen zum Besseren zu verändern? Ich kann einfach nicht nachvollziehen, dass man sich damit abfindet, dass das Leben nur ein Film ist.
2. Apropos Film: Könnte alles ein Test sein, eine spielfilmtaugliche Probe? Noch skurriler: Ist das Leben eine Art Beschäftigungstherapie für mich als einzige Existenz? Ein egozentrisches Gedankenspiel. Nein, ich traue der umfassenden Realität zu, dass sie solche weltlichen Konzepte nicht nötig hat.
3. Auch die Prozesse, die sich beim Träumen abspielen, sind eine Betrachtung wert. Das Gehirn ist in der Lage, allein durch neuronale Stimulanzen komplexe, real erscheiende Handlungsstränge vor dem inneren Auge abzuspielen. Ich bin nicht selten beeindruckt von dem, was sich mein Gehirn so ausdenkt. Doch auch die reelle Welt nehmen wir eben allein durch eben diese neuronalen Prozesse wahr. Unsere Sinnesorgane sind die alleinige Verbindung.
4. Ein besonderes Rätsel, das ich durchaus ernst nehme, sind Nahtoderfahrungen. Auch nur eine neuronaler Prozess? Die Parallelen in den vielen Berichten sind stark und konkret. Der Gedanke ist verlockend, in den Berichten über einen Zustand der Liebe und Geborgenheit jenseits des "Tunnels" eine Bestätigung für religiöse Vorstellungen zu suchen. Ist es so, als würde man in Platons Höhlengleichnis mal um die Ecke gucken? Ich gebe zu, dass mir das Thema zu Denken gibt.
5. Das historisch gewachsene und eigentlich sehr spezielle Gedankenkonstrukt der christlichen Religion habe ich hier erstmal außen vor gelassen. Für mich geht es vor allem um einen Gottesglauben. An der Rolle von Jesus Christus scheiden sich bei mir Verstand und Glaube. Sohn Gottes? Das ist ein Bild. Die Bibel? Geschichtlich erklärbar. Gerade zu Festen wie Weihnachten oder Ostern komme ich sehr ins Grübeln.
6. Es gibt die Vorstellung, dass die Seele zum Beginn des Lebens wie Wasser in einem Glas ist, das aus einem See geschöpft wurde. Vielleicht sogar wie ein Teil Gottes, doch das wäre anmaßend. Das Wasser ist im Laufe des Lebens vielen Einflüssen ausgesetzt. Die Seele wird geformt. Kann man es reinigen? Kommt es wieder zurück in den See? Doch das ist nur ein Bild, dessen puristische Grundtendenz mir auch etwas suspekt ist.
7. Die Idee, dass atomare Quanteneffekte unseren Geist mit der materiellen Welt verzahnen – quasi als Interface – besitzt dennoch ihren Reiz. Schließlich spielen sich neuronale Effekte in einem wissenschaftlich schwer erfassbaren Mikrokosmos ab.
Damit verwandt ist die Idee des “göttlichen Funken” in der Evolution: Es sind tatsächlich die unkalkulierbaren radioaktiven Zerfallsprosse, die minimale Veränderungen im Erbgut bewirken können, damit aber auf längere Sicht über den Fortbestand einer Spezies entscheiden können. Allerdings kommt mir dieses Konzept des Eingreifens einer göttlichen Instanz in die Realität widerum zu weltlich vor, weil sie Gott auf einen Entscheider im Hintergrund reduziert.
8. Zu den reduziereten Möglichkeiten der naturwissenschaften noch ein Vergleich, aber wirklich nur im übertragenen Sinne: Man stelle sich die unsere materielle Welt wie den Speicherinhalt eines PC vor, nur um Zehnerpotenzen größer. Die Naturwissenschaften können ihn bis auf das letzte Bit erforschen und die Regeln herausfinden, nach denen er funktioniert. Aber was außerhalb dieses abgeschlossenen Systems geschieht, können wir nie erfahren. Damit will ich nicht sagen, die matierielle Welt sei eine Computersimulation. Dieses Bild wäre dann doch zu einfach. Eine Schwäche des Vergleichs ist auch, dass außerhalb eines PC ja gerade die matierielle Welt existiert, deren Begrenztheit ich verdeutlichen will. Der Vergleich soll nur verdeutlichen, dass es Schranken gibt, die wir nicht durchbrechen können.
9. Wie sehr riskiert jemand berufliche und private Perspektiven, wenn er sich tiefergehend zu solchen Fragen äußert? Nur wer sich nicht festlegt, gilt heute als maximal kompatibel. Dürfen Pastoren solche Gedanken äußern? Sie wären prädestiniert, halten sich aber sicherlich regelmäßig zürück.
Im Alltag spielen all diese Ideen eine untergeordnete Rolle. Ich kann mich an einem Abend hineindenken, wundern und anschließend alle Ideen innerlich wieder zur Seite packen. Was aber bleibt, ist das Gottvertrauen als bestimmende Größe im Hintergrund.
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