Gedanken zur Flüchtlingssituation

Februar 2016

Ein halbes Jahr ist nun vergangen, seit ich meine ersten Gedanken zur Flüchtlingssituation in die Tasten tippte. Das war im September und Oktober. Einiges ist passiert: Die Ereignisse von Köln, jetzt Clausnitz und der Brandanschlag in Bautzen. Gleichzeitig versucht die Politik, die EU-Außengrenze in Kooperation mit der Türkei abzuriegeln. Der Preis ist wie erwartet hoch: Erdogan gießt Öl ins Feuer, heizt den Konflikt mit den Kurden im eigenen Land an, was die Lage in Syrien noch komplizierter macht.

Nach jedem Vorfall in Deutschland stellen sich viele demonstrativ auf die Seite der Flüchtlinge- und das ist natürlich richtig. Dennoch wundert mich die Naivität, mit der diese Debatte bisweilen geführt wird. Beide Seiten reden aneinander vorbei. Und da sehe ich eben auch Defizite auf Seiten der Willkommenskultur, die bestimmte Fragen einfach ignoriert, die Dinge laufen lässt.

Noch immer hinterfragt kaum jemand das unmenschliche, bisherige System. Wer in Deutschland versorgt werden will, muss illegal die EU-Außengrenze überqueren, muss Schlepper teuer bezahlen, und sein Leben bei der Mittelmeerpassage riskieren. Wir lassen die Boote kentern, obwohl wir die Menschen auch abholen könnten. Und dann lassen wir sie an Zäunen wochenlang warten, frieren. Das wird zwar gern kritisiert. Doch selten hört man aus Reihen der Willkommenskultur Vorschläge, wie es stattdessen laufen sollte. Denn jede Antwort führt unweigerlich zur Frage nach Kontingenten, einer gezielten Auswahl und der Grenzsicherung. Um diese Fragen zu vermeiden, wird lieber ein System in Kauf genommen, in dem sich Flüchtlinge und Migranten durch Leid und Lebensgefahr für die Aufnahme in Deutschland qualifizieren müssen. Das begrenzte bis Anfang 2015 den Zuzug ganz gut. Doch das funktioniert plötzlich nicht mehr.

Ein Gedankenspiel: Wir holen Asylbewerber kostenlos mit dem Flugzeug ab. Wer generell bereit ist, notleidenden Menschen durch eine Aufnahme in Deutschland zu helfen, müsste eigentlich ganz vehement darauf drängen, den Menschen die lebensgefährliche Flucht über illegale Routen zu ersparen.

Dann stellt sich natürlich die Frage: Wen holen wir ab? Nach dem gegenwärtigen System kann jeder Asyl beantragen, der es nach Deutschland schafft. Abschiebungen sind selten, weil die Länder die Menschen gar nicht oder nur widerwillig zurücknehmen. Sollen wir alle abholen, die wollen? Ich fürchte, das sind Milliarden. Denn den wenigsten ist wohl wirklich klar, wie viel bittere Armut und Gefahr es auf der Welt gibt.

Und da wären wir dann auch beim Thema Obergrenze. Die Politik scheut die brisante Aufgabe, eine Auswahl zu treffen. Das linke politische Lager wiegt sich lieber in dem Glauben, alle Bedürftigen fair zu behandeln und blendet dabei wohlwissend aus, dass die meisten gar nicht zu uns kommen können. Wenn wir aber wirklich allen eine Chance geben wollen, konkurriert das hungernde Kind aus Äthiopien mit der Familie aus dem zerstörten Aleppo, dem politisch verfolgten Chinesen und diversen Folteropfern aus den Diktaturen dieser Welt. Der Aufschrei in jedem abgelehnten Einzelfall wäre groß. Sollten wir alle vier genannten Beispiele aufnehmen? Es sind zig Millionen, die wirklich derzeit exorbitantes Leid ertragen. Doch wir ignorieren lieber ihre Existenz und helfen nur denjenigen, die zufällig schon hier sind. Darfur oder Nigeria hat derzeit kaum jemand auf dem Schirm. Syrien ist nur die Spitze des Eisbergs. Warum sollten wir nur den Syrern helfen, bloß weil sie näher dran sind? Mit diesen Fragen will ich nur aufzeigen, wie schwierig es ist, moralisch einen einwandfreien Kurs zu fahren. Jeder Ansatz, sichere Herkunftsländer zu definieren (Menschen von dort können ja trotzdem Asylanträge stellen), wird vom linken Lager als fremdenfeindlich zurück gewiesen, während sich niemand um die noch viel stärker Bedürftigen kümmert.

Menschlich ist das natürlich nachzuvollziehen. Die große Dimension des Leids in der Welt, die auch schon lange vor Syrien existierte, überfordert uns alle. Man hilft lieber jetzt und hier. Und das finde ich bemerkenswert. Doch ich habe eben kein gutes Gefühl, wenn jede Kritik am fehlenden Gesamtkonzept gleich in Grund und Boden verdammt wird. Denn die Lage ist nunmal widersprüchlich. Ich vermute, einige Pegida-Mitläufer spüren das, können das nur nicht ausdrücken. Und dann stellen sich Leute, die tatsächlich keinerlei Barmherzigkeit in sich tragen, in Dresden ans Rednerpult und bekommen Applaus.

Doch angenommen, wir schaffen es tatsächlich, besonders bedürftige Menschen in Deutschland oder Europa einzufliegen. Dann müssten wir verhindern, dass keine Menschen zu uns kommen, die wir eben nicht ausgewählt haben. Damit erreichen wir ein weiteres unangenehmes Thema: die Grenzsicherung.

Leider ist hier das Gedankenspiel zu Ende. Sollte es tatsächlich gelingen, die EU-Außengrenze zu sichern, sinkt sofort die Bereitschaft zu helfen. Geplante Flüchtlingskontingente würden sofort der Sparpolitik zum Opfer fallen. Der Handlungsdruck wäre genommen, die Krisenherde wieder weit weg. Ich vermute, dass selbst wohlmeinende Politiker sich genau deshalb mit solchen Ideen zurück halten.

Wesentlich effizienter wäre sowieso die Hilfe vor Ort, vorausgesetzt finanzielle Hilfen kommen tatsächlich an. In den Flüchtlingslagern in den Krisenregionen fehlt es an vielem, jeder Euro wird dort gebraucht. Doch auch für solch eine Hilfe findet sich keine politische Lobby. Der Türkei stehen die Millarden nur in Aussicht, weil sie die Schleusen nach Europa nach Belieben öffnen und schließen kann. Jordanien, wo ebenfalls Millionen Menschen gestrandet sind, geht fast leer aus. Wir helfen nur, wenn wir müssen. Übrigens: Auch wenn die AfD betont, sie würde lieber vor Ort helfen, traue ich dieser Partei am wenigsten zu, dass sie tatsächlich so etwas umsetzen würde.

Angela Merkels Kurs zielt nun in die Richtung, tatsächlich die EU-Außengrenzen besser abzuschotten, Flüchtlingsboote zurück an die türkische Küste zu lotsen und dort ausgewählte Kontingente nach Europa zu verteilen. Das ist nicht der ganz große Wurf, aber möglicherweise schon mehr, als erreichbar ist. Und die Gefahr besteht, dass selbst dieser Ansatz scheitert, weil die europäischen Nachbarn nicht mitspielen und die Türkei hoch pokert.

Wie wird die NATO-Mission in der Ägäis verlaufen? Werden Flüchtlingsboote irgendwann zurück gedrängt, womöglich mit Warnschüssen zum Umkehren bewegt und sich selbst überlassen? Solange aber Tausende die griechischen Felsen erreichen, wird der Druck wachsen, die die Attraktivität Deutschlands als Wunschziel zu senken. Der Wettlauf um die schlechtesten Asylbedingungen in Europa kann beginnen.

Was wird also passieren? Viele werden auch dieses Jahr wieder im Mittelmeer ertrinken. Zigtausende werden zusätzlich nach Deutschland kommen. Wir werden langfristig mit einigen Parallelgesellschaften leben müssen, weil die Integration bei einem Teil der Menschen versagt. Ein entscheidender Faktor auch in diesem Zusammenhang wird sein, wie sich die Konjunktur entwickelt. Durchaus möglich, dass uns die Spätwirkungen der Bankenkrise in einigen Jahren doch noch einholen und dadurch die sozialen Spannungen zunehmen. Es war eine Wirtschaftskrise, die einst den Nazis zur Macht verhalf. Ich hoffe, es kommt anders.

Hier nun meine Zeilen von September und Oktober, die diese Gedanken bereits skizzieren. Klickt auch die Links an, falls sie noch aktiv sind. Das sind gute Artikel mit Hintergrundinfos.

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Willkommen in Flensburg!
Pappschilder mit arabischer Schrift hängen im den Flensburger Bahnhof. “Refugees Welcome” – was die Helfer am Flensburger Bahnhof seit mittlerweile mehreren Wochen auf die Beine stellen, beeindruckt mich. Tausende Menschen kamen und gingen, meist auf dem Weg nach Skandinavien. Ich selbst war mehrmals beruflich dort. Da war die kurdische Familie mit Kleinkind, die aus Syrien geflohen war und die letzten beiden Jahre in der Türkei war. Viele junge Männer in kleinen Gruppen. Ein Mann aus Damaskus sagte, das Leben in der Türkei sei zu teuer geworden. Tatsächlich flüchten viele, weil in den türkischen Lagern keine Hilfe mehr ankommt. Alle, die hier in Flensburg kurz strandeten, wollten weiter nach Schweden, Norwegen oder Finnland.
Am Bahnhof begegnete sich das multikulturelle Flensburg. Die Übersetzer aus Palästina, Syrien, Afghanistan oder dem Iran waren Dreh- und Angelpunkt des Teams. Das sind Männer und Frauen, die seit Jahren in Flensburg leben und hier offenbar angekommen sind.
Weniger präsent sind die Menschen vom Balkan, die sich hier Chancen erhoffen. Im Juli hatte ich bereits zwei Albaner getroffen, die seit mehreren Monaten in Flensburg auf ihren Asylbescheid warten. Auf der Exe wächst bereits das erste Containerdorf. Und in Hamburg stehen Zelte.

Wie wirkt sich das alles langfristig aus? Seit einigen Wochen schon schreibe ich an diesem Beitrag und muss ihn täglich ändern, in dem ich versuche, etwas über die Tagesaktualität hinaus zu denken. Und es kommen ständig auch Links zu hintergründigen Zeitungsartikeln hinzu, die ich eigentlich hier nur zusammen stellen wollte.

Wer genießt Asyl?

Das Grundgesetz spricht von “politisch” verfolgten. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schreibt dazu:

“Allgemeine Notsituationen wie Armut, Bürgerkriege, Naturkatastrophen oder Perspektivlosigkeit sind damit als Gründe für eine Asylgewährung grundsätzlich ausgeschlossen. Hier kommt unter Umständen die Gewährung von subsidiärem Schutz in Betracht. Bei einer Einreise über einen sicheren Drittstaat ist eine Anerkennung als Asylberechtigter ausgeschlossen. Dies gilt auch, wenn eine Rückführung in diesen Drittstaat nicht möglich ist, etwa weil dieser mangels entsprechender Angaben des Asylbewerbers nicht konkret bekannt ist.”

Subsidiär heißt übrigens etwa: nachrangig. Der jetzige Schutz stützt sich allein auf die Genfer Flüchtlingskonvention. Natürlich muss man diesen Menschen helfen.

Sondersituation Türkei

Begründet wird das immer wieder mit einer nie dagewesenen Sondersituation. In Syrien sind Millionen auf der Flucht. Doch grausame Bürgerkriege hat es auch vorher gegeben. Darfur, Südsudan, Ruanda, Somalia, um nur einige zu nennen. Doch wie sollten diese Menschen hier ankommen? Sie müssen mehrere afrikanische Grenzen passieren und landen dann vielleicht in Libyen, von wo aus die Mittelmeerpassage hoch riskant ist. Entsprechend waren die Zahlen überschaubar.

Diejenigen, die jetzt kommen, waren größtenteils vorher in der Türkei. Viele waren dort in den Lagern. Und jetzt haben sie plötzlich relativ freie Bahn nach Europa- bei hohem Risiko. Skrupellose Schlepper laden die Menschen in schrottreife Boote. Angebote sind aber mehr denn je vorhanden. In Izmir hat sich ein lukrativer Geschäftszweig entwickelt. Vergleicht man die Situation mit Berichten aus vergangenen Jahren, dann scheint auch die Route durch Griechenland durchlässiger geworden zu sein. Gleichzeitig steigen die Chancen, in Deutschland bleiben zu können.

Die perverse Logik der Flüchtlingsauslese

Der eigentliche Grund für den Andrang ist also, dass der Flaschenhals breiter geworden ist: Die Passage über das Mittelmeer. Zurückblickend ist es pervers, dass sich die Politik seit Jahren mit dieser natürlichen Begrenzung arrangiert. Die unausgesprochene Logik dahinter: Wer sich für Asyl “qualifizieren” will, muss zunächst sein Leben riskieren. Somit ist es auch kein Wunder, dass die vielen jungen Männer voraus reisen. Aber letztlich entscheiden die Schlepper, wer nach Europa darf. Warum begeben sich wohl so wenige allein reisende Frauen auf die Reise? Warum schaffen es die 1,4 Millionen Kinder aus Nigeria nicht hierher, die vor Boko Haram flüchten? Sie werden wohl kaum eine Überfahrt bezahlen können. Auch Deutschland hat sich auf diesem Selektionssystem ausgeruht.
Im krassen Gegensatz dazu steht der betont vorsichtige Umgang mit den Asylbewerbern, wenn sie Deutschland erreicht haben. Jeder Asylantrag wird individuell geprüft, selbst aus sicheren Ländern. Gegen Abschiebungen kann geklagt werden. Die überlasteten Gerichte brauchen Jahre, um zu entscheiden. Wir sind so vorbildlich und human, damit garantiert niemandem Unrecht geschieht. Aber wer es nicht über das Mittelmeer schafft, hat eben Pech gehabt.
All das liegt ganz sicher an der Entfernung: Je weiter weg das Sterben, desto weniger regt man sich in Deutschland darüber auf. Genozid in Ruanda oder Tote in Darfur? Eine Randnotiz. Menschenmassen am Bahnhof von Budapest bauten dagegen schon so viel Druck auf, dass Deutschland seitdem fast alle Flüchtlinge aufnimmt – entgegen aller EU-Regeln. Sehr human. Der moralische Druck auf andere Staaten ist dadurch aber abgebaut. Deutschland wird sogar vorgeworfen, mit dem Alleingang den Geist des vereinten Europa zu zerstören. Das ist zynisch. Die 160.000 Plätze im angedachten Verteilsystem reichen kaum einen Monat lang. So lange es keine dauerhaften prozentualen Quoten gibt, bleibt die Verteilung ungeregelt.
Schlepperboote legen nun im Minutentakt ab. Die Türkei kann ihre Rolle als “Schleusenwärter”, wie die FAZ schreibt, voll ausspielen. Die Politik will diese Hürden für die Mittelmeerpassage wieder erschweren und ist bereit, Erdogan dafür den Teppich auszubreiten, obwohl er eine Mitschuld am Aufstieg des IS hat. Kurz gefasst Erdogan will allein einen Kurdenstaat verhindern und ließ den IS deshalb lange gewähren. Die Rechnung geht nicht auf. Die Anschläge sind die bittere Folge.

Was ist die Alternative? Direktflug und Asyl-Antragscenter außerhalb der EU? In Damaskus, Kinshasa oder Kabul in den Botschaften? Die Bewerber werden sich bedanken, wenn es heißt: Wegen des großen Interesses wird über Ihren Antrag voraussichtlich erst in vier Jahren entschieden. Derzeit stellt die geschlossene Deutsche Botschaft in Damaskus klar:

“Deutschland schickt keine Schiffe in den Libanon oder die Türkei um dort Flüchtlinge abzuholen. Deutschland hat kein neues Flüchtlingsprogramm beschlossen. Bei der Deutschen Botschaft können keine Asylanträge gestellt werden.”

Aber selbst wenn: Wer darf zuerst? First come first serve? Oder eine Vorselektion: Antragsteller mit Kriegsverletzungen oder Folterspuren bitte in die Priority Line? Oder lieber welche mit Hochschulabschluss?

Die gefährliche Suche nach dem starken Mann

Internetkommentatoren feierten im September Herrn Orban. Das ist der Mann, der in Ungarn Presse, Justiz und Behörden gleichschaltet. Dass seine Zäune reine Symbolpolitik sind, ist schnell klar geworden. Aber trotzdem zeigt sich: die Suche nach dem starken Mann beginnt. Die AfD hat gottseidank bisher noch keine solche Personalie zu bieten. Sie ist eher ein chaotischer Haufen, in dem aber Rechtsextreme die Gunst der Stunde wittern, im Politikbetrieb aufzusteigen. Auch die NPD wird um Stimmen werben und hoffentlich nicht allzu viele bekommen.

Die Angst, falsch verstanden zu werden

Bei der Gelegenheit – ein Blick auf die Schwierigkeit, seine Bedenken zur Flüchtlingssituation zu äußern. Schon seit Jahren ködern die rechtsextremen Rattenfänger naive Bürger mit Parolen, die zum Beispiel darauf hinauslaufen, Flüchtlingen in deren Heimat zu helfen. Aber nur, weil die Böswilligen so etwas fordern, muss das Gegenteil nicht immer richtig sein. Jede Begrenzung von Asyl wird von Linken gleichgesetzt mit “Ich habe nichts gegen Ausländer, aber…” Man hält sich lieber zurück, um sich keinem Verdacht auszusetzen. Das erstickt jede konstruktive Diskussion.

Dabei ist Ausländerfeindlichkeit eigentlich doch klar zu erkennen, wo sie auftritt: Dort, wo Menschen angefeindet werden, bloß weil sie schwarz sind, Muslime oder Juden, Ausländer generell. Dort, wo womöglich genetisch argumentiert wird. All das nimmt leider zu und ängstigt mich.

Wer aber differenziert und zum Beispiel eben nicht alle Anhänger des Islam über einen Kamm schert, braucht sich den Schuh nicht anzuziehen.

Keine Obergrenze?

Angela Merkel betonte gerade noch, es gebe keine Obergrenze für Asyl. Schon wenige Tage später mahnte Bundespräsident Gauck, die Aufnahmefähigkeit sei begrenzt. Klingt wie ein Widerspruch. Beides ließe sich tatsächlich in Einklang bringen, wenn die Asylbedingungen so restriktiv sind, dass nur wenige versorgt werden müssen. Aber das Gegenteil ist der Fall. Mit dem Freifahrtschein für das 20 Millionen-Volk der Syrer liegt die einzige Begrenzung eben im Flaschenhals der Mittelmeerpassage.

Dann sollte man eigentlich so konsequent sein, und alle Interessierten direkt einfliegen lassen, nicht nur aus Syrien. Aber daran dürfte klar werden, dass wir diesen Andrang nicht bewältigen.

Also: Obergrenze oder schärferes Asylrecht? Bei der Obergrenze würde das Asylrecht ausgehebelt. Und ein schärferes Asylrecht angepasst an unsere Kapazitäten? Es könnte darauf hinaus laufen, Bürgerkriegsflüchtlinge nur noch bei extremer Bedürftigkeit zu akzeptieren. Das ist schwierig. Nur noch schwer Kranke, Kinder, Frauen?

Der Ansatz der Politik, der jetzt wohl kommt, zielt aber in eine andere Richtung: Rückkehr zum Dublin-Abkommen, Lager in der Türkei, Verteilzentren in Griechenland – die Attraktivität einer Einreise in die EU soll sinken.

Der Wettbewerb um die schlechteste Unterbringung

Beim Blick auf die überfüllten Lager in Hamburg oder Neumünster , bei Meldungen über Massenschlägereien, kommt einem vielleicht der verwerfliche Gedanke: Das regelt sich schon von selbst. Je mehr sich die Unterbringung in Deutschland verschlechtert, desto mehr werden andere Länder attraktiver. Viel hängt vom Image ab. Dänemark gilt etwa als erstaunlich unpopulär, obwohl die Standards deutlich besser als in Osteuropa liegen. Mein Eindruck ist, dass Flüchtlinge über erstaunlich wenig Informationen verfügen. Diejenigen, die ich traf, wußten kaum, wo sie waren, oder welche Grenzen gerade geschlossen wurden. Von den kleineren europäischen Ländern haben viele vorher noch nie etwas gehört. Der FAZ-Artikel beschreibt sehr gut, wie sich vage Informationen über Facebook verbreiten. Die Erwartungen sind hoch, die Enttäuschungen oft groß, selbst im Traumland Schweden. Trash-Kampagnen wie in Dänemark oder Australien sind sicherlich nicht der richtige Weg. Es wäre hilfreicher, ein realistisches Bild von Reisewegen, Unterbringung, Jobperspektiven zu vermitteln. Hier sind nichtstaatliche Organisationen gefragt, da die offiziellen Stellen bei so etwas wenig glaubwürdig erscheinen würden und auch nicht so unbefangen informieren könnten.
Der richtige Ansatz wären sicherlich einheitliche EU-Standards bei der Versorgung von Asylbewerbern. Die EU strebt doch auch bei Gurke und Glühbirne nach Einheitlichkeit. Osteuropa wird sich aber wohl nur mit Finanzspritzen dazu bewegen lassen, mehr zu tun. Allerdings wollen wahrscheinlich trotzdem weiterhin viele nach Deutschland, denn inzwischen dürften viele Syrer hier Verwandtschaft haben.

Gekommen, um zu bleiben

Sollen sie überhaupt irgendwann zurück? Rechtlich gesehen ja, sobald sich die Lage zu Hause bessert. Doch wird das auch passieren, wenn sie nicht frewillig gehen? Bisher scheitern Abschiebungen oft an den Umständen. Der Drehtüreffekt, also die Klage gegen die Ablehnung des Folgeantrags, Krankheiten oder einfach Abtauchen – nach den jetzigen Regeln schaffen es viele, auch darüber hinaus zu bleiben. Einige verbergen ihre Nationalität. Wohin sollte man sie abschieben? Selbst, wenn ein Gericht schließlich eine rechtskräftige Entscheidung getroffen hat, kommt es oft aus organisatorischen Gründen nicht zur Abschiebung. Der SHZ-Artikel thematisiert Rückführung in EU-Staaten. Die Polizei hat nur begrenzte Kapazitäten. Und nach 6 Monaten besteht dann Bleiberecht.

Weil Abschiebungen so schwierig sind, baut man lieber Zäune an den EU-Außengrenzen oder verschlechtert die Anreize, indem man Leistungen kürzt oder über Registrierungslager für Balkanflüchtlinge an den Grenzen nachdenkt.
Noch weiß keiner, wie die Integration verläuft. Kinder lernen schnell deutsch, Erwachsene nicht. Motivation zur Arbeit wird vorhanden sein, die Qualifikation nach hiesigen Standards wird nur zum Teil gelingen können. Und in einer Gesellschaft, wo selbst erfahrene deutsche Fachkräfte im Ü50-Alter schlechte Chancen haben, können Sprachanfänger nur mit Lohnvezicht und Überstunden punkten. Die Menschen werden ihre eigenen Gemeinschaften bilden, wie es Migranten schon immer getan haben. Einige schaffen den Sprung in die deutsche Gesellschaft, andere nicht. Und das gilt auch für die Folgegenerationen. Wird deren Situation in 30 Jahren vergleichbar mit der vieler Türken in der Gegenwart sein?

Frauenrechte, Schwule, Koranwitze und Mülltrennung
Die “Islamisierung des Abendlandes” (das “IdA” von “pEgIdA” – ein merkwürdiger Titel) ist natürlich überhaupt nicht das Problem. Das Wertesystem schon eher. Und das gilt natürlich nur für einen Teil der Leute, die kommen. Vielleicht meinen das einige der Pegida-Demonstranten, aber sie rennen hinter den falschen Fahnen her. Nebenbei: Die Ideologie der Rechtsradikalen ist der des Islamischen Staates gar nicht so unähnlich. Ein Kommentar aus der konservativen FAZ bringt die Bedenken aber ganz gut auf den Punkt, trotz des belehrenden Zungenschlags und des etwas naiv wirkenden “Briefes” an die Flüchlinge. In Alarmstimmung kommt man nach dem Genuss der ZDF-Reportage über Parallelgesellschaften, die ganz bestimmt in größerem Maße als bisher entstehen werden. Ein Teil der Zuwanderer wird unsere Grundwerte ablehnen.
Es geht um Toleranz. Und die Frage, inwieweit wir möglicherweise intolerante Menschen tolerieren wollen. Was fehlt, ist ein genaues Bild. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm. Wir brauchen aber dringend mehr repräsentative Erkenntnisse zu den Vorstellungen der Flüchtlinge über Frauenrechte, religiöse Toleranz, Homosexualität und die generelle Bereitschaft, das Grundgesetz über eigene Traditionen zu stellen. Hier kann nur helfen, ins Gespräch zu kommen und Vertrauen aufzubauen.

Falsche Vergleiche

Um die Situation einzuordnen, werden im Moment viele Vergleiche gezogen. Alle hinken.

Fangen wir mit dem zweiten Weltkrieg an. Die Flüchtlingszahlen aus den Ostgebieten waren höher. Aber natürlich waren Sprache und Kultur die selbe. Deutschland hatte die Katastrophe selbst verursacht und die Ansprüche an Unterkünfte und Verpflegung mussten minimal sein.

Die Gastarbeiter konnten von Beginn an arbeiten, die Jobs unter harten Bedingungen standen bereit. Heute ist der Bedarf an ungelernten Hilfskräften deutlich geringer. Die Flüchtlinge werden zunächst die Sozialkassen massiv belasten. Ob die Integration besser gelingt, bleibt abzuwarten. Der Wille ist da, die Möglichkeiten bei den hohen Zahlen bleiben aber begrenzt. Bemerkenswert: 14 Millionen Gastarbeiter kamen, 12 Millionen kehrten nach Hause zurück. Doch dir Türkei boomt, der Aufbau in Syrien wird dauern.

Im Zeitraum von 1951 bis 1987 kamen laut Wikipedia etwa 1,4 Millionen Aussiedler in die Bundesrepublik, also pro Jahr nur 50.000 im Schnitt. Danach stieg die Zahl vorübergehend an: 400.000 waren es 1990. Bei der Integration ergibt sich ein durchmischtes Bild. 2007 sollen aber nur 20.000 arbeitslos gemeldet gewesen sein.

Unsinnig fand ich die Vergleiche mit der Wiedervereinigung. Finanziell ein Kraftakt. Aber ansonsten hatten die DDR-Bürger ja Wohnraum, Ausbildung und Sprachkenntnisse.

Verglichen wird auch oft, dass Deutschland weniger Flüchtlinge als Syriens Nachbarländer aufnimmt. Dort werden sie aber deutlich schlechter versorgt. Für das kleine Jordanien ist es trotzdem ein Kraftakt. Die Haltung der Türkei ist ambivalent. Zu Beginn tat sie viel, zuletzt versuchte sie, die Menschen los zu werden.

Von der Kunst, Prioritäten zu setzen
Bisher überlassen wir es also dem Zufall, wer aufgenommen wird. Wer die riskante Reise übersteht, hat Glück gehabt und kann sich darauf einstellen, dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Wir haben derzeit Einwanderung von Menschen, die mal mehr, mal weniger in Not sind. Es kommt die Zeit, in der sich die erschöpften Helferteams auf ihren harten Kern reduzieren. Diese Arbeit müsste eigentlich bezahlt werden. Gleichzeitig drängen neue Flüchtlinge nach, und das Konfliktpotential steigt.

Es wird vorkommen, dass unzufriedene Flüchtlinge mit zu hohen Erwartungen unberechtigte Forderungen stellen und undankbar erscheinen. Perfekte Sündenböcke für die Rechten, die schon jetzt eifrig Berichte über jeden brisanten Vorfall sammeln. Vergewaltigung, Pädophilie… Warum sollten Flüchtlinge anders sein als andere Menschen? Statistisch kommt irgendwann der erste Fall. Und dann hoffe ich, dass genug Menschen das richtig einordnen können.
Warum ist es so schwer, ab einen bestimmten Punkt zu sagen: Wir haben unseren Teil getan, jetzt sind andere dran. Das Grundrecht auf Asyl existiert schließlich in ganz Europa. Wenn eine Million Flüchtlinge ordentlich untergebracht sind und ein durchfinanziertes Integrationskonzept steht, können wir gerne die nächsten Kontingente in Angriff nehmen. Aber erst dann.

Und größtmögliche Gerechtigkeit kann man nicht erreichen, indem man jeden Antrag selbst aus den sicheren Herkunftsstaaten vom Balkan zulässt. Die Realität hat diese Idealvorstellung längst eingeholt. Effizienz ist nur durch Pauschalierungen zu erreichen, die ein gewisses Vorsortieren ermöglichen.

Im Gegenzug könnten wir Menschen auch aus entfernteren Krisenregionen ermuntern zu kommen, wenn dort schlimme Schicksale drohen. Ja, noch mehr Menschen, die wir vielleicht sogar persönlich abholen. Die Flugkosten fallen im Vergleich zum Gesamtaufwand kaum ins Gewicht. Für den Moment muss dieser Anstoß sicherlich eine Vision bleiben, denn er birgt auch eine große Problematik. Wen nehmen wir zuerst, wenn wir auswählen können? Den unterdrückten Chinesen oder den hungernden Afrikaner?

Oder haben wir eine besondere Verantwortung für den Nahen Osten, weil er näher an Europa ist? War es überhaupt richtig, das Asylrecht für alle Syrer gelten zu lassen, wenn die Lage in Damaskus doch noch ruhig ist? Oder ist humanitäre Hilfe in den Nachbarländern effizienter? Immer wieder höre ich zuletzt, wir seien selbst Schuld an den Problemen in den Krisenländern. Doch bitte keine Illusionen: Gegen die weltpolitischen Schlachten, die in Syrien geschlagen werden, ist Deutschland weitgehend machtlos.

Die generelle Einwanderungsdebatte steht auf einem ganz anderen Blatt. Dass beides vermischt wird, ist eher der Motivation geschuldet, die Debatte ins Positive zu lenken. Doch kein Land holt sich Hunderttausende als Arbeitskräfte ins Land, ohne jegliche Qualifikation zu testen. Und wir können nicht die Gewährung von Asyl von sonstigen Kenntnissen abhängig machen. Beides muss man trennen.

Integrationsförderlich könnte es natürlich sein, ein langfristiges Bleiberecht in Aussicht zu stellen, auch wenn die Asylgründe längst weggefallen sind, aber die Deutschkenntnisse gewachsen sind und die Menschen im Arbeitsleben stecken.

Zum Abschluss noch ein Lied von Dota Kehr über Grenzen. Es ist tatsächlich naiv, aber genial getextet und berührend, weil doch alles ein Irrsinn ist.
Hier der Text.

Und hier noch ein paar lesenswerte Artikel, die erst erschienen, nachdem ich die Zeilen oben schrieb.

FAZ: Deutschlands Staunen über die Migranten

Die Welt: Die Grenze zwischen der Türkei und Syrien

… ist die erste Hürde insbesondere für kurdische Flüchtlinge. Die Türkei spielt dabei eine zweifelhafte Rolle. Erdogans Wahlkampf auf Kosten der Kurden trägt massiv zum Elend bei.

UNHCR: Last Exit Flucht – ein Flüchtlingsspiel

als interaktives Flash-Adventure, Zielgruppe: Jugendliche ohne Vorkenntnisse. Krass…

neuere Links von 2016

Süddeutsche Zeitung: Der tägliche Kampf
NDR-Beitrag über häusliche Gewalt gegen weibliche Flüchtlinge

Gewalt in der Erziehung und im Umgang mit Frauen sind in Afghanistan und Syrien insgesamt häufiger anzutreffen. Das muss man einordnen. Es gibt sicherlich viele Männer unter den Geflüchteten, die das ablehnen. Und auch in Deutschland passiert im Verborgenen vermutlich mehr, als man ahnt. Man darf auch nicht vergessen, dass in Deutschland vor 50 Jahren noch ganz andere Maßstäbe galten. Die Einstellungen

https://www.facebook.com/Texte/photos/a.120467527994444.6987.120467391327791/1025890067452181/?type=3&theater

1,2 oder 3? Eine schöne, überspitzte Karrikatur zur Polarisierung der Debatte.

http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/ausbildung-von-fluechtlingen-in-rosenheim-14092678.html

Schlechte Aussichten auf dem Arbeitsmarkt für diejenigen jugendlichen Flüchtlinge, die kaum schulische Vorbildung haben. Deren Anteil scheint höher als gedacht. Es gibt auch positive Beispiele, die natürlich lieber präsentiert werden und es deshalb auch leichter in die Medien schaffen. Der FAZ-Artikel zeichnet dagegen ein pessimistisches Bild.

https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Fluechtlingsalltag-auf-dem-Land,fluechtlinge5842.html

Mein eigener Beitrag nach einem Besuch in Süderbrarup- bei einer syrischen Großfamilie und bei den Flüchtlingshelfern.

http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/fluechtlinge-kosten-deutschland-bis-2017-rund-50-mrd-euro-14045355.html

Die schwierige Debatte um Kosten: Rund 25 Milliarden Euro pro Jahr schalgen allein für Wohnung, Verpflegung, Sprach- und Integrationskurse zu Buche. Schulen, Sozialarbeit, Polizei (organisatorische Unterstützung) scheinen da noch nicht miteingerechnet, wenn ich den Artikel richtig verstehe. Das wären also grob gerechnet mehr als 20.000 Euro pro Flüchtling und Jahr. Wahrscheinlich könnte man mehr Menschen helfen, wenn z.B. die UNO in den Krisenregionen mit diesen Summen die Flüchtlingslager besser ausstattet. Andererseits wirkt das Geld, wenn es in Deutschland bleibt, wie ein Konjunkturpaket. Das hilft, diese Ausgaben politisch durchzusetzen.

https://magazin.spiegel.de/digital/?utm_source=fremd&utm_medium=banner&utm_content=SDHWOFREMD&utm_campaign=heftwerbung#SP/2016/4/141826644

Spiegel Leitartikel 4/2016 (kostenpflichtig): Was Merkel antreibt. Grundgedanke: Sie hat keine Angst vor dem persönlichen Machtverlust, der irgendwann sowieso eintritt. Stattdessen wirft sie nun ihr politisch erarbeitetes Kapital in die Waagschale, um aus ihrer Sicht moralisch richtig zu handeln, natürlich auch bedingt durch die Situation. Aus meiner Sicht spielen auch ihre bisherigen Erfahrungen eine Rolle: Die Kostenfrage kümmert sie möglicherweise wenig. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass ganz andere Summen in der Finanzkrise verbraten wurden – für nichts. Bei den Flüchtlingen wird dagegen Menschen geholfen. Angela Merkels Kindheit als Pastorentochter in der DDR spielt da sicherlich eine Rolle. Sie wuchs auf einem Hof auf, wo geistig behinderte Menschen betreut wurden, wo Mildtätigkeit gelebt wurde. Solche Erfahrungen prägen.


von Peer-Axel Kroeske
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