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09.09.2018
Der Kampf um die Deutungshoheit in Chemnitz ist in vollem Gange. Linke und Rechte fluten das Netz mit selektiv zusammengeschnittenen Videos, die zeigen sollen: Wir waren friedlich, die jeweils anderen nicht. Keine Frage: Der Mord wurde instrumentalisiert. Es gab einen hasserfüllten, rechten Mob, der zusammen mit den ruhigeren Kerzenträgern demonstierte. Und die Angst ist berechtigt, dass dieser Mob sich zunehmend zur Gewalt ermutigt fühlt, wenngleich es bei den Demos glücklicherweise kaum Verletzte gab.
Medien und Politik streiten sich jetzt um die müßige Frage, wann eine "Hetzjagd" beginnt oder ob diejenigen, die vor einer Dramatisierung warnen, den Ernst der Lage nicht erkannt haben. Was dabei wieder einmal völlig untergeht: Die Frage, wie eine Flüchtlingspolitik wirklich aussehen sollte.
Um mal etwas auszuholen: Die "Großmutter aller Probleme" mag wohl die Kolonialisierung gewesen sein. Zu den zahlreichen Enkelkindern gehören Waffenhandel, Clanbildung in den Heimatländern und im Exil, Islamismus, Stellvertreterkriege und wirtschaftliche Ausbeutung durch Großkonzerne und Großmächte, um es nur kurz zu umreißen. Deutschland mag seinen Teil zu all dem beigetragen haben, kann die "Fluchtursachen" aber kaum eigenständig bekämpfen. Hilfreich wäre es, dieses Geflecht zu analysieren. Was passiert in Afrika gerade? Welche Rolle spielt China? Wo beteiligen sich deutsche Firmen an Rohstoff- und Waffenhandel? Kann Europa mit humanitären Projekten ein Gegengewicht schaffen? Das ist mühsam und verdammt kompliziert.
Stattdessen beschränkt sich die poltisch linke Seite verbissen darauf, jede abweichende Sichtweise zu den Ereignissen in Chemnitz zu diskreditieren. Oder man streitet für die Seenotretter, durch die Flüchtlinge möglicherweise erst ermutigt werden, sich überhaupt in Seenot zu begeben. Das zumindest wird kaum hinterfragt. Die Flüchtlinge in den kleinen Schlauchbooten hätten keine Chance, die mehr als 300 km von Libyen nach Italien oder Malta zu schaffen, wenn die Helfer nicht ufernah bereit stehen würden (Ärzte ohne Grenzen: "so nah wie möglich"). Und dann wird argumentiert, man dürfe die Menschen nicht nach Libyen zurück schicken. Tatsächlich dürfte die Situation dort grausam sein. Konsequent wäre es aber dann, sämtliche Ausreisewilligen aus Afrika aufnehmen, ohne, dass sie sich in Lebensgefahr begeben müssen. Natürlich ließe sich das nicht bewältigen. Der Verweis auf ein Einwanderungsgesetz hilft da leider auch nicht weiter. Denn es zielt auf ganz andere Gruppen, als diejenigen, die sich in Afrika auf den Weg machen.
Im demokratischen Wettstreit fehlen überzeugende Konzepte, wie mit dieser Situation umzugehen ist. Wahrscheinlich wäre es mehrheitsfähig, besonders bedürftige Flüchtlinge aktiv ins Land zu holen, wenn gleichzeitig die unkontrollierte Zuwanderung unterbunden wird. Das bedeutet aber: Flüchtlingsboote abweisen, Obergrenzen definieren, eine Auswahl unter den Elenden treffen. Ganz heikle Punkte. Die demokratischen Parteien scheuen vor solchen pragmatischen Ansätzen zurück und platzieren die Grausamkeiten lieber dort, wo sie keiner sieht: Im türkischen oder afrikanischen Hinterland, wo zweifelhafte Regime und Milizen die Migranten aufhalten, einsperren, foltern. Und sie setzen darauf, dass die Thematik nicht hochkocht, solange sich eine Situation wie 2015 nicht wiederholt.
Diese Widersprüchlichkeit spielt der AfD in die Hände, in deren düsterem Umfeld diejenigen Morgenluft wittern, für die es nur ein kleiner Schritt vom "kriminelle Ausländer ausweisen" zum generellen "Ausländer raus" ist. Die politisch Linke scheint leider zu glauben, die Diskussion wäre gewonnen, wenn man nur die Abgründe der rechten Szene deutlich genug ins Licht rückt. Auch das muss aber fundiert erfolgen. Da hilft es wenig, vor ungeklärter Faktenlage den Rücktritt von Verfassungsschutz-Chef Maaßen zu fordern, nur weil er die Echtheit des von "Antifa Zeckenbiss" geposteten Videos anzweifelt, das offenbar ein Hauptbeleg für die "Hetzjagd"-These zu sein scheint. Diejenigen, die man eigentlich überzeugen müsste, werden sofort so interpretieren, dass jeder, der aus der Reihe tanzt, zurückgepfiffen wird.
Die wirklich drängenden Fragen aber werden nicht beantwortet. Das lässt diejenigen Wähler ratlos zurück, die zwar der AfD mit Skepsis begegnen, die aber deshalb noch lange nicht von den etablierten Parteien überzeugt werden. Sie brauchen klarere Ansagen, wie genau die Flüchtlingspolitik in Zukunft aussehen sollte. Integrationsprobleme müssen ungeschönt angesprochen werden, Lösungsansätze offen diskutiert werden. In Schweden sind heute (9.9.2018) Wahlen. Hier ein guter FAZ-Artikel, der Anstoß war, diese Gedanken mal aufzuschreiben.
FAZ: Die Lehren aus Chemnitz - was Demokratiefeinde stark macht